Abschalten: 14 Tage off – ein Experiment mit Folgen
Im September traf ich einen folgenreichen Entschluss: Ein Urlaub auf Kreta nur mit Mietwagen, Zelt und völlig offline. Abschalten pur. Ich hatte keine Ahnung, welche Folgen dieser Entschluss für mich und mein Leben haben würde. Die Wiederentdeckung der Intuition – eine empfehlenswerte Erfahrung.
Es fing ganz harmlos an: „Ich brauche mal wieder Urlaub zum Abschalten“, meinte schon der zweite Arbeitskollege an diesem Vormittag und indem er sehnsüchtig-melancholisch aus dem Fenster blickte, war seine Aufmerksamkeit sogleich wieder verschwunden, hin zu seinem vibrierenden Smartphone und zu einer – mit lautem Getöse – aufpoppenden E-Mail am Bildschirm. „Was meinen wir eigentlich damit, wenn wir davon reden, im Urlaub mal wieder so richtig ‚abschalten‘ zu wollen?“, fragte ich mich. „Was wird da konkret abgeschaltet werden? Was ist dann „off“ und was bleibt „on“?“ Ich war gerade mitten in der Planung meines Kreta-Urlaubes und entschied mich deshalb recht spontan: Das „Abschalten“ probiere ich jetzt mal im Urlaub aus.
Aus-Knopf gedrückt – Urlaub beginnt.
Am Flughafen in Stuttgart schaltete ich das Smartphone für den Flug aus – in Heraklion nur kurz wieder ein für die Einreiseabwicklung wegen meines Corona-Negativ-Tests. Die Sonne war bereits im rötlichen Sinkflug, als ich in den Mietwagen stieg und in Georgioupolis war es bei meiner Ankunft bereits stockfinster. Ich war hungrig und durstig und einen Zeltplatz hatte ich auch noch nicht. Kurzentschlossen ging ich etwas essen und schlief die erste Nacht im Auto. Mit dem Sonnenaufgang aufzuwachen und allein am Strand schwimmen zu gehen, entschädigte mich für die unbequeme Nacht und das hatte viel von Abschalten im Urlaub an sich. Wie spät es wohl ist? Und wie wohl das Wetter werden wird? Ich griff zum Smartphone: Aber das Smartphone ist und bleibt auch aus. Ich rate die Uhrzeit am Sonnenstand und orakle das Wetter des Tages aufgrund von Wind und Wolken. Später sollte ich erfahren: Bei der Uhrzeit lag ich oft ganz gut, aber als Landei das Wetter am Meer einzuschätzen, war pure Überheblichkeit. Es kam immer anders, als vermutet.
Abschalten: Mensch, war das einfach
Am zweiten Tag fahre ich zu einem Campingplatz bei Paleochora. Seit gut 30 Jahren habe ich nicht mehr gezeltet. Keine Ahnung, ob ich das noch kann und ob mein Rücken das mitmacht. Da ist das Zelten auf dem Campingplatz ein guter Start. Der Zeltaufbau klappt super: Allerdings liege ich die ganze Nacht schräg mit dem Kopf nach unten. Drehe in der Nacht den Körper, am Tage dann das Zelt. In der Nacht darauf liege ich leicht schräg nach rechts und rutschte gegen die Zeltwand. Am dritten Tag der Triumph: Seitlich gerade, vorne und hinten gerade. Warum nicht gleich? Aber es stürmt mittlerweile ziemlich stark und das exakt in die Zeltöffnung hinein. Tja – nur der Laie dreht die Zeltöffnung in den Wind: Also nochmals Zelt umgebaut und Heringe besser festgemacht. Immerhin: Ich bin im Jetzt beschäftigt, bin präsent und in der Freizeit genieße ich einen ziemlich einsamen Sandstrand mit hervorragenden Tavernen, außerdem verschlinge ich neugierig die mitgebrachte Literatur. Na also: Geht doch – das mit dem Abschalten. Ist doch ganz einfach.
Das Gehirn hat keinen Off-Schalter
Ich feiere diesen Triumph nur kurz, denn wenig später merke ich, wie meine Gedanken kreisen. Was wohl gerade mit Corona so los ist? Und im Wahlkampf zuhause? Kommen die Kollegen im Projekt in meiner Abwesenheit weiter? Treffen sie gute Entscheidungen? Kurz überlege ich, das Smartphone wieder einzuschalten, aber der Akku ist jetzt ohnehin erst einmal völlig leer. Die Suche nach dem „Off-Knopf“ für die kontinuierlich kreisenden Gedanken ist erfolglos, erst mein dritter Meditationsversuch im Sonnenuntergang bringt mich zur Ruhe. Das Gehirn hat irgendwie keinen Off-Schalter – vermutlich ein Hersteller-Bug!? Oder ist es ein Feature ohne Gebrauchsanleitung?
Ich schlafe herrlich, tief und erholsam, gehe nach dem Abendessen in der Taverne und dem Sonnenuntergang schlafen und stehe mit dem Sonnenaufgang wieder auf. Dieser Biorhythmus tut mir vom ersten Moment an sehr gut. Und die Uhrzeiten haben längst ihre Bedeutung komplett verloren. Das Wetter nehme ich wie es ist, aber der Sturm wird mir zu stark. Spontan reise ich ab und bin den halben Tag am Rande der Weißen Berge unterwegs, um einen Strand in der Nähe von Rodakino zu erreichen. Hier gibt es nur eine Taverne – keinen Campingplatz: Wildcampen ist jetzt angesagt und eigentlich in ganz Griechenland verboten. Egal – ich bin herrlich alleine an einem sehr großen einsamen Strand und spüre zum ersten Mal die Herausforderung, mit sich völlig alleine zu sein und gleichzeitig abzuschalten, hautnah.
Ein Hauch von Thoreau
Es schleicht sich ein wenig Wildnis und Abenteuer in meinen Zelturlaub ein. Hier bin ich ganz für mich selbst verantwortlich. Es liegt an mir, ob ich genügend Essen und Wasser habe. Wenn ich den Autoschlüssel im Sand verliere oder es mir das Zelt wegbläst, wenn ich mir die Füße an den Steinen aufschürfe oder zu viel Sonne und Hitze bekomme. Es liegt alles in meiner Verantwortung. Mir wird klar: Zuhause ist das auch nicht anders, aber hier ist dieses Prinzip der Eigenverantwortung viel näher an meiner Lebendigkeit und meiner Existenz. Während ich Tagebuch schreibe, fühle ich mich ein wenig als kleiner Henry David Thoreau. Der amerikanische Schriftsteller hat 1854 sein Buch „Walden“ geschrieben, über einen monatelangen Ausstieg in ein Leben in einer Hütte mitten in der Wildnis. Ich bin hier in der „Wildnis“ ganz bei mir, fühle mich gut und wieder triumphiere ich: Abschalten ist ganz einfach! Es geht doch!
Der Terror der Gedanken verfolgt mich
Doch schon bald beginnt wieder der ununterbrochene Strom der Gedanken zu fließen und reißt mich aus meinem Gleichmut: „Willst Du jetzt den ganzen Urlaub hier verbringen? Die Insel ist doch so groß? Anderswo war der Strand aber doch viel schöner? Und willst Du nicht mal zu dem Strand mit den großen Palmen und der sagenhaften Taverne?“ Dem Terror gebe ich nach ein paar Tagen nach und fahre quer über die Insel. Überall ist es anders schön, aber überall habe ich das Thema im Gepäck: Abschalten ist etwas anderes. Abschalten würde bedeuten, einmal wirklich zur Ruhe zu kommen, auf einem Felsen zu verharren, Wellen zu zählen … Nach einer Woche bin ich alles an- und abgefahren, was mich die Todo-Liste in meinen Kopf geheißen hatte und lande wieder reumütig an eben dem gleichen Strand – zum Abschalten.
Was immer mir meine Gedanken jetzt einreden: Ich höre nicht mehr auf sie. Ich folge meiner Spontaneität und Intuition. Das Smartphone ist weiterhin aus – auch wenn meine Neugierde quengelt, es einzuschalten. Stattdessen zieht es mich zu einer anstrengenden Bergtour auf 1.700 Meter Höhe. Treiber ist wieder einmal ein Gedanke: „Du wolltest doch noch im Gebirge wandern, gell?“ Heute ist genau das richtige Wetter, meint die Vernunft zu wissen. Kann schon sein, denn am Strand ist es unerträglich sonnig und heiß. Meine Intuition hingegen sagt: Abschalten!
Das Bergwetter im Smartphone vor der Wanderung zu checken, wäre nicht die dümmste Idee gewesen. Bei der 18 Kilometer langen und 600 Höhenmeter umfassenden Tour sind die sechs Liter Wasser rasch aufgebraucht: Die Hitze ist im Gebirge wegen der Windstille heute noch höher als am Meer! Ziemlich dehydriert und kurz vor einem Hitzestich bin ich wieder am Zelt. Abschalten ist jetzt keine reine Kopfsache mehr, sondern der Körper fordert die Ruhe massiv ein: Leichter Schüttelfrost, Kopfschmerzen. Abschalten? Geht doch … Nein – ich erlaubte mir nicht mehr darüber zu triumphieren.
Der Berg Gottes ruft
Einige Tage hielt ich es gut mit mir, mit ein paar interessanten Bekanntschafen, dem Meer, dem leckeren Tavernenessen und meiner Literatur aus, dann hatte sich der Körper vom Hitzeangriff erholt und das Gehirn witterte seine Chance auf eine erneute Gedankenattacke. „Du wolltest doch sicherlich noch auf den Berg mit der Kapelle bei Plakias wie letztes Mal auch, gell?“ Ich nickte in Gedanken, warf aber im inneren Dialog ein, dass es viel zu heiß sei. Tags darauf konnte ich damit punkten, dass es zu stürmisch sei. An dem Tag, an dem mich mein Gehirn endlich mit dem blöden Berg und seiner Kapelle in Ruhe zu lassen schien, stieg ich frühmorgens ins Auto und fuhr nach Plakias. Eine schwere Gewitterwand hing über dem Meer, eine andere über den Bergen. Es regnete leicht und der Wind stürmte aufbrausend und unberechenbar. Plakias – „starker Wind“ – der Ort trägt seinen Namen zu Recht.
Die Schönheit der Intuition und des Momentes
In mir passiert gerade etwas Eigenartiges: Ich fühle mich abgeschaltet, geerdet, meiner Intuition folgend. Das Smartphone ist aus, das Gedankenkarussell ist angehalten, der Berg ruft. Wider alle Vernunft erklimme ich Schritt für Schritt den steinigen alpinen Pfad. Der Regen wird stärker, der Wind stürmt mal von hinten, mal von vorne. Kein Mensch geht heute diesen rund 500 Meter hohen Berg hinauf. Warum ich? Weil mir meine Intuition sagt: Dies ist ein einzigartiger Moment, um diesen Berg zu erklimmen – geradewegs so, als ob der Berg morgen nicht mehr existieren würde. Ich zweifle an meiner Intuition.
Auf halbem Weg öffnet sich ein Teil des Himmels: Sie Sonne strahlt durch den leichten Regen hindurch. Ein doppelter Regenbogen taucht vom Meeresspiegel auf und reicht über die ganze Bucht von Plakias hinüber bis ins Gebirge. Dieser Moment ist von einer Erhabenheit und einer Schönheit, die einen vergessen lässt, weiter zu atmen. Minutenlang stehe ich im Sturm und Regen, starre gespannt auf das Schauspiel. Meine Intuition hat mich hierhin geführt. Hätte ich nicht ab- und das Smartphone ausgeschaltet, ich wäre jetzt nicht hier. Mir wird so bewusst wie nie zuvor, wie viele Chancen, wie viel Wunderbares einem im Leben entgehen kann, wenn man die Aufmerksamkeit zu sehr im Äußeren hat bzw. auf Äußerlichkeiten richtet, anstatt seiner Intuition zu folgen.
Die Folgen für meinen Alltag
Für ein paar Sekunden fehlt mir das Smartphone um dieses Naturschauspiel zu fotografieren, bevor ich mir dessen gewahr werde: Dies ist kein Naturschauspiel, das ich fotografieren und mit anderen teilen soll. Dieses Schauspiel ist nur für mich, um mir zu zeigen, wie wichtig und richtig es ist, diesen eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Wie gerne hätte ich diesen spirituellen Eindruck von diesem Kraftort mit Gleichgesinnten und Freunden geteilt. Doch gerade das ist die Erkenntnis: Es gibt keinen anderen eigenen Weg, als den der eigenen Intuition zu folgen, völlig unabhängig davon, ob andere diesen Weg kennen, gutheißen oder mitgehen.
Apropos der Intuition folgen. Dieses hatte für mich Folgen: Seitdem ich dieses Erlebnis hatte, hat es einen viel höheren Stellenwert in meinem Leben, meiner Intuition zu folgen. Wenn ich mir nicht sicher bin, ob sie mich wirklich gerade sinnhaft führt, dann sage ich mir: „Vertraue dem Regenbogen.“ Mit diesem Anker rufe ich das faszinierende Schauspiel und das damit verbundene Gefühl vom Berg bei Plakias in mein Gedächtnis zurück und ich werde ganz sicher darin, dem einzig für mich bedeutenden Ratgeber zu folgen: Meiner Intuition.